An dieser Stelle vollzieht Luhmann einen gedanklichen Sprung, indem er sich völlig vom Schematismus-Text abwendet und sich einem zweiten Aspekt des Subjekts, das er nun nicht mehr als ,,Denkfigur``, sondern als ,,Form`` im Sinne George Spencer Browns bezeichnet, zuwendet, nämlich der Individualität. Hier glaubt Luhmann ,,ebenfalls`` eine Paradoxie erkennen zu können, weil das Subjekt nach ,,,Selbstverwirklichung``` strebt und diese ,,über ein Copieren von Individualitätsmustern`` erreicht (Luhmann , 1997: 871). Diese kulturkritische Bemerkung führt allerdings die Argumentation gegen den Subjektbegriff nicht fort, sondern leitet lediglich zu einem neuen Gedanken über: Luhmann betrachtet das Subjekt als ,,Zwei-Seiten-Form10``, die wiederum mit einer Selbstbeschreibung identisch zu sein scheint. Jede Selbstbeschreibung muß, (da sie eine Form11 ist), ,,etwas bezeichnen und anderes im Unbezeichneten lassen`` (Luhmann , 1997: 871). Diese Kontingenz der Selbstbeschreibung ,,kann zwar noch bemerkt, aber nicht ,aufgehoben` werden; denn das Bemerken ist nur noch autologisch möglich...`` (Luhmann , 1997: 871). Der Gehalt dieses Gedankens läßt sich auch ohne Rückgriff auf die logischen Kalküle von Spencer Brown und Gotthard Günther zusammenfassen: Keine Beschreibung und somit auch keine Selbstbeschreibung kann ihre eigene Kontingenz vollständig ,mitbeschreiben`, da sonst ein infiniter Regreß eintritt.
An diese Passage schließt sich ein längerer Abschnitt an, der aber inhaltlich zunächst nichts Neues bringt. Luhmann sieht ,,hier``, also in der Selbstbezüglichkeit von Selbstbeschreibungen, den ,,verborgenen Grund``, der auch die ,,zugelassenen Subjekt-Unterscheidungen in Schwierigkeiten bringt`` (Luhmann , 1997: 871). Was unter ,,zugelassenen Subjekt-Unterscheidungen`` zu verstehen ist, zeigt sich dann im folgenden, wenn Luhmann nochmals darauf verweist, daß das Subjekt die Subjekt-Objekt-Unterscheidung in sich selbst erzeugt und zugleich reflektiert. Auch die weiter oben (Luhmann , 1997: 870) aufgeworfene Frage, von was das Subjekt sich unterscheide, wenn es sich als Subjekt definiert, stellt Luhmann an dieser Stelle noch einmal, nun allerdings vor dem Hintergrund seiner ,,Form``-Interpretation des Subjektbegriffs. Da eine ,,Form`` immer das, was sie nicht bezeichnet, im ,,Unbezeichneten belassen`` muß (Luhmann , 1997: 871), bleibt ,,der Status von Welt unbestimmt`` (Luhmann , 1997: 871). Diese globale Unbestimmtheit von Welt führt Luhmann dann zurück zu seiner oben vorgetragenen Kritik am Konzept der Individualität, die er thesenhaft formuliert:
Luhmanns Argumentation an dieser Stelle ist sprunghaft und schwer nachvollziehbar, wenn nicht dogmatisch: Zunächst entsteht das von ihm in Satz 1 behauptete Paradox, daß die Welt sich im Subjekt selbst reflektiert, nur dann, wenn man von einem einzigen Subjekt ausgeht, das zum Selbstbeobachter wird. Aus einer Vielzahl von Subjekten, denen alle die gleichen Schranken der Erkenntnis gesetzt sind, ergibt sich meines Erachtens nur dann ein Paradox der Selbstbezüglichkeit, wenn ein Subjekt ein anderes Subjekt betrachtet und die so gewonnenen Erkenntnisse auf sich selbst zu übertragen versucht. Selbst daraus folgt aber nicht zwingend, daß es in der Welt keine anderen Subjekte geben kann, sondern nur, daß den Einsichten über diese anderen Subjekte und über sich selbst Grenzen gesetzt sind.12
Satz 2 wird von Luhmann überhaupt nicht begründet, dient aber dann als Beleg für die noch weiter reichende Behauptung von Satz 3, daß nämlich den Subjekten Kommunikation unmöglich sei. Der Schluß von der Unmöglichkeit von Individualität auf die Unmöglichkeit von Kommunikation ist umso verblüffender, als Luhmann selbst gemeinhin einen ,leeren` Kommunikationsbegriff zugrundelegt, wie sein Verweis auf Garfinkel13 zeigt:
,,Ausschlaggebend ist statt dessen, daß Kommunikation fortgesetzt wird - wie immer das dazu notwendige Bewußtsein zum Mitmachen bewogen wird. Nie läßt sich in der Kommunikation feststellen, ob Bewußtseinssysteme ,authentisch` dabei sind, oder nur das zum Fortgang Notwendige beitragen`` (Luhmann , 1997: 874).
Eine mögliche Erklärung bietet Fußnote 10, die sich so interpretieren läßt, als referiere Luhmann in Satz 3 Kant: ,,Hier ist allerdings einzuräumen, daß selbst Kant der Logik seiner Begrifflichkeit nicht folgt...`` (Luhmann , 1997: 872). Diese Seitenlinie der Kritik an Kant bedarf meines Erachtens keiner weiteren Diskussion, da Luhmann hier schlicht zu übersehen scheint, daß Kant sich an der von ihm zitierten Stelle nicht auf Erkenntnisurteile, sondern auf Geschmacksurteile bezieht (vgl. §20) - immerhin stammt die von ihm zitierte Passage aus der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Wie oberflächlich sich Luhmann mit der betreffenden beiden Paragraphen beschäftigt hat, geht schon aus seiner Interpretation des ,,Gemeinsinns`` als ,,sensus communis, also common sense`` (Luhmann , 1997: 872, Fußnote 10) hervor: Die entsprechende Passage bei Kant lautet dagegen:
,,Ein solches Prinzip aber könnte nur als Gemeinsinn angesehen werden, welcher vom gemeinen Verstande, den man bisweilen auch Gemeinsinn (sensus communis) nennt, wesentlich unterschieden ist: indem letzterer nicht nach Gefühl, sondern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nur als nach dunkel vorgestellten Prinzipien, urteilt.`` (Kritik der Urteilskraft, §20, Hervorhebung K.A.)
Luhmanns Urteil, die Philosophie sei hier ,,in Verlegenheit`` (Luhmann , 1997: 872, Fußnote 10) hat mit dem zugrundeliegenden Text und dem darin entwickelten Begriffsapparat offensichtlich wenig zu tun.
Auch die Sätze 4 und 5 sind eher dogmatische Setzungen als nachvollziehbare Argumentationsschritte: Ein Subjekt soll nur dann Individuum sein können, wenn es nicht dasselbe denkt wie ein anderes Subjekt. Dabei setzt Luhmann ,,dasselbe denken`` in Anführungszeichen. Sollte es sich hier um ein Zitat handeln, so bleibt unklar, wessen Gedanken Luhmann hier referiert. Begründet wird diese Aussage - ,,dasselbe denken`` schließt Individualität aus - erstaunlicherweise durch nichts weiter als durch die Definition eines psychischen Systems Luhmannscher Provenienz, nämlich durch den Rekurs auf ,,operative Schließung`` und ,,Selbstreproduktion seines eigenen Erlebens`` (Luhmann , 1997: 872).
Ohne Individualität, so Luhmann weiter, wäre das Subjekt ,,nichts anderes als eine semantische Figur``, ,,die ,Regel` der Selbstreflexion``, ,,die Fähigkeit zu unterscheiden, [...die] Selbstreferenz impliziert`` (Luhmann , 1997: 872). Alle diese Formulierungen scheinen äquivalent zu sein und reduzieren sich letztlich auf die Aussage, daß das Subjekt ohne Individualität nichts weiter als das sei, als was es von Luhmann weiter oben definiert wurde: Eine (,,Zwei-Seiten``)-Form der Unterscheidung.
Zwischen beiden Begriffen - gemeint sind aber nicht etwa Subjekt und Individualität, sondern Selbstreferenz und Unterscheidung, wie aus dem übernächsten Satz hervorgeht - sieht Luhmann ein ,,zirkuläres Implikationsverhältnis``, was bedeuten würde, daß Selbstreferenz Unterscheidung und Unterscheidung Selbstreferenz impliziert (Luhmann , 1997: 872). Dieses Verhältnis glaubt Luhmann aber ,,entfalten`` zu können, indem er den Begriffen ,,unterschiedliche Gegenbegriffe attachiert und sie dadurch unterscheidet`` (Luhmann , 1997: 872). Mit anderen Worten: Luhmann führt, nunmehr ohne erkennbaren Bezug zum Subjektbegriff, zur Individualität und zu Kant ,,Fremdreferenz`` und ,,Bezeichnung`` als Gegenbegriffe zu ,,Selbstreferenz`` und ,,Unterscheidung`` ein, weil somit ,,reichere Formulierungen möglich`` werden (Luhmann , 1997: 872f.), was Luhmann durch eine Frage illustriert, in der alle vier Begriffe und zudem noch ,,beobachten`` als Synonym für ,,bezeichnen`` verwendet werden.
Für Luhmann folgt (,,demnach``) entweder aus der von ihm vorgenommenen ,,Entfaltung`` oder aus dem Beispiel für die ,,reichhaltigeren Formulierungen``, daß etwas ,,,zugrundeliegt```14, nämlich ,,die Benutzung einer Unterscheidung zur Differenzierung von gleichzeitig praktizierter Selbst- und Fremdreferenz`` (Luhmann , 1997: 873). Welche der beiden von ihm vorgenommenen Unterscheidungen das ist, bleibt ebenso unklar wie der Bezug des ,,Zugrundeliegens``. Diese Unterscheidung wird von Luhmann anscheinend wieder als ,,Form`` konzipiert - das legt die Rede von ihren beiden Seiten nahe - und vollzieht sich als eine ,,immer [...] nur momenthaft aufblitzende Operation`` (Luhmann , 1997: 873). Diese Überlegungen führen Luhmann zurück zum Schematismus-Text: In Anlehnung an die von Kant vorgenommene Verbindung von ,,reinen Verstandesbegriffen`` mit den ,,empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen`` (B176.) durch die Zeit (vgl. B179) will Luhmann die hier ,,zu findende Tendenz weiter[...]führen`` (Luhmann , 1997: 873) und das ,,Problem der Erkenntnis einer unabhängig von ihr [der Erkenntnis? K.A.] bestehenden Welt in die Zeitdimension aufzulösen`` (Luhmann , 1997: 873). Luhmann will also die von Kant vorgeschlagene Verknüpfung zweier Konstituenten des Subjekts durch die Zeitlichkeit auf das Verhältnis von System und Umwelt übertragen.