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Stellung des Kapitels innerhalb des Werkes

Die Gesellschaft der Gesellschaft zerfällt in fünf große Abschnitte, deren letzter sich mit den ,,Selbstbeschreibungen`` der Gesellschaft befaßt. Damit wird, wie Luhmann formuliert, in diesem Kapitel ,,unser Thema zum Thema, nämlich die Gesellschaft der Gesellschaft`` (Luhmann , 1997: 866).

Was ist unter solchen ,,Selbstbeschreibungen`` der Gesellschaft zu verstehen? Als Gesellschaft bezeichnet Luhmann das ,,umfassende Sozialsystem`` (Luhmann , 1997: 78), das alle anderen Sozialsysteme in sich einschließt. Unter einem sozialen System wiederum versteht Luhmann ein Gebilde, daß sich aus ,,Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung1`` (Luhmann , 1994: 240) zusammensetzt. Stark vereinfacht ließe sich die Gesellschaft also als ein weltumspannender Kommunikationsprozeß bezeichnen. Diese Lesart wird vom Text gedeckt:

,,Wir werden noch sehen, daß diese Analyse uns festlegt auf die Annahme eines einzigen Weltgesellschaftssystems, das gleichsam pulsierend wächst oder schrumpft, je nachdem, was als Kommunikation realisiert wird. Eine Mehrheit von Gesellschaften wäre nur denkbar, wenn es keine kommunikativen Verbindungen zwischen ihnen gäbe`` (Luhmann , 1997: 78).

Wie soll nun ein solcher Kommunikationsprozeß sich selbst beschreiben? Zwar kann man sich ohne weiteres vorstellen, daß innerhalb einer Kommunikation auf die Kommunikation selbst Bezug genommen wird, also Metakommunikation vorliegt. Solche metakommunikativen Akte gehen aber von den Akteuren aus, die am Kommunikationsprozeß beteiligt sind, nicht vom Prozeß selbst. Das zugrundeliegende logische bzw. begriffliche Problem hat Hartmut Esser sehr klar herausgearbeitet:

,,Luhmann spricht hier von der ,Selbstbeobachtung` und von der ,Selbstbeschreibung` sozialer Systeme, also: der Kommunikation höchstselbst. Das klingt sehr eigenartig. Wie sollte beispielsweise eine Gepräch sich selbst als ,Handlung` vorstellen oder als ablaufendes System beobachten können? Können das nicht eigentlich nur leibhaftige Menschen? Soziale Systeme haben weder Augen und Ohren noch Gehirne oder ein Gedächtnis. Davon könnte allenfalls in Metaphern gesprochen werden, so wie bei Emile Durkheim vom Kollektivbewußtsein oder bei Maurice Halbwachs vom kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft`` (Esser , 1996: 514).

Die Beschäftigung mit diesem Widerspruch ist kein Selbstzweck. Zum einen schärft sie den Blick für ein grundsätzliches Problem der Luhmannschen Theoriebildung, nämlich die Tendenz, soziale Systeme wie Kollektivsubjekte zu beschreiben. Wenn Luhmann den sozialen Systemen so etwas wie Bewußtsein zuzuschreiben scheint, verstößt er damit meines Erachtens gegen eine von ihm selbst aufgestellte und höchst sinnvolle Regel: ,,Vergleiche zwischen verschiedenen Arten von Systemen müssen sich an eine Ebene halten`` (Luhmann , 1994: 17). Nur so läßt sich erklären, daß er die Möglichkeit, die Gesellschaft als Subjekt zu beschreiben, überhaupt in Betracht zieht, um davon ausgehend die Subjektphilosophie zu attackieren. Zum anderen liefert sie den Schlüssel dafür, warum Luhmann dieses letzte Kapitel überhaupt geschrieben hat. Denn auch Luhmann selbst geht keineswegs davon aus, daß eine sogenannte Selbstbeschreibung der Gesellschaft von der Gesellschaft selbst geleistet wird:

,,...auch hier gibt es statt dessen imaginäre Konstruktionen der Einheit des Systems, die es ermöglichen, in der Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft, aber über die Gesellschaft zu kommunizieren. Wir werden solche Konstruktionen ,Selbstbeschreibungen` des Gesellschaftssystems nennen`` (Luhmann , 1997: 866f.).

Obwohl Luhmann den Gedanken, daß diese sogenannten ,,Selbstbeschreibungen`` von einzelnen Akteuren, also psychischen Systemen vorgenommen werden, sicher ablehnen würde (und deshalb folgerichtig formuliert, daß das System zu einer ,,Mehrheit von Auffassungen über seine eigene Komplexität`` (Luhmann , 1997: 876) tendiere), geht er doch offensichtlich davon aus, daß es innerhalb der Gesellschaft eine Vielzahl von mehr oder minder zweckmäßigen ,,Selbstbeschreibungen`` gibt und gegeben hat. Ziel dieses über 180 Druckseiten umfassenden Kapitels ist es damit letztlich, nachzuweisen, daß diese Beschreibungen unzureichend sind, um dann die Systemtheorie Luhmannscher Provenienz als eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft zu etablieren, die ihre eigenen Grenzen reflektiert: ,,Abschließend reformulieren wir das in diesem Buch dargestellte Konzept einer Gesellschaftstheorie als Angebot einer Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft`` (Luhmann , 1997: 1128).

Dabei qualifiziert Luhmann rund 2.500 Jahre europäischer Geistesgeschichte ab, indem er den Welt- bzw. Gesellschaftsbeschreibungen der Vergangenheit pauschal einen Mangel an Reflexionsvermögen unterstellt:

,,Die Darstellungen der vorangegangenen Abschnitte haben die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft als historische Semantik behandelt und sie bis an die Gegenwart herangeführt. Aber natürlich waren diese Semantiken nicht für sich selbst ,Semantiken` gewesen, sondern man2 hatte geglaubt, das beschreiben zu können, was der Fall ist oder doch sein sollte. Die von Zeit zu Zeit aufkommende Einsicht, daß es sich um Beschreibungen handele, die unangemessen geworden waren (...) führte nur zu einer Verschiebung des blinden Flecks, in dem der Beobachter sich selbst verborgen hält`` (Luhmann , 1997: 1110).

Damit scheint klar zu sein, daß es sich bei weiten Teilen des fünften Kapitels um eine Art Ideologiekritik handelt, die Argumente dafür liefern soll, daß die von Luhmann vorgeschlagene ,,Selbstbeschreibung`` den bisherigen Entwürfen überlegen sei. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Kritik an der ,,Semantik Alteuropas``, der er fünf eigene Unterkapitel (5.IV bis 5.VIII) widmet. Als ,,alteuropäisch`` bezeichnet Luhmann

,,eine spezifische Sichtweise, [die] hoffnungslos veraltet und passé ist. Hoffnungslos veraltet, wenn auch - nach Luhmann leider - noch nicht passé, ist dasjenige Denken, das er ontologisches Denken nennt`` (Gripp-Hagelstange , 1995: 15).

Das Kapitel 5.II, in dem Luhmann sich mit dem Begriffspaar Subjekt - Objekt befaßt, bildet gleichsam einen Vorspann zu dieser Auseinandersetzung.


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Kai Arzheimer
2001-07-09