Niklas Luhmanns jüngste Monographie, Die Gesellschaft der Gesellschaft, wird vom Autor selbst als Schlußkapitel seiner soziologischen Theorie der Gesellschaft angesehen. Mit den Sozialen Systemen, so Luhmann, habe er ,,das systemtheoretische Einleitungskapitel`` zu dieser umfassenden Gesellschaftstheorie vorgelegt (Luhmann , 1997: 11), während seine Publikationen zum Wirtschafts-, Wissenschafts-, und Rechtssystem sowie zur Kunst als ,,Theorien für einzelne Funktionssysteme [der Gesellschaft]`` gelten sollen (Luhmann , 1997: 12). Das vorliegende Werk hingegen arbeitet zum einen die allgemeinen theoretischen Überlegungen, die Luhmann in den Sozialen Systemen (Luhmann 1994, Erstauflage 1984) und in zahllosen Einzelpublikationen entwickelt hat, weiter aus; zum anderen versucht sich Luhmann an einer historisch-genetisch angelegten Beschreibung der gesamten Gesellschaft, die von ihm als Weltgesellschaft (Luhmann , 1997: 78) in einem nicht-emphatischen Sinne konzipiert wird.
Aus soziologischer Sicht kann man mit guten Gründen die Frage stellen, ob ein solches Unternehmen überhaupt sinnvoll durchführbar ist, und, falls man dieses bejaht, ob die Luhmannsche Systemtheorie dazu die geeigneten Instrumente zur Verfügung stellt. Luhmann selbst weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß schon Georg Simmel angesichts der Schwierigkeiten, die sich aus einer derart globalen Fragestellung ergeben, ,,lieber den Gesellschaftsbegriff als das soziologische Interesse an Individuen`` geopfert habe (Luhmann , 1997: 26). Luhmanns weitreichender Anspruch an seine eigene Theorie, der in der Formulierung mitschwingt, ,,Seit den Klassikern, seit etwa 100 Jahren also, hat die Soziologie in der Gesellschaftstheorie keine nennenswerten Fortschritte gemacht`` (Luhmann , 1997: 20), seine Konflikte mit den Vertretern der Kritischen Theorie auf der einen und des empirischen Mainstream auf der anderen Seite sind hier jedoch von nachgeordneter Bedeutung. Im Zentrum steht vielmehr die Frage nach der philosophischen Relevanz des Luhmannschen Theoriegebäudes.
Hier bieten sich drei mögliche Anknüpfungspunkte:
An diesem letzten Punkt möchte ich ansetzen, denn meines Erachtens bleibt Luhmanns Beschäftigung mit den philosophischen Klassikern häufig an der Oberfläche und wird den komplexen Gedankengebäuden, auf die er sich bezieht, nicht gerecht. Oft drängt sich der Verdacht auf, daß Luhmann sich nicht ernsthaft mit den zugrundeliegenden Texten beschäftigt, sondern mittels der in seinem legendären Zettelkasten gesammelten Lesefrüchte einmal mehr gegen das ,,alteuropäische Denken`` polemisiert. Eine Möglichkeit, diese Hypothese ansatzweise zu überprüfen, bietet das Unterkapitel 5.II. In diesem Abschnitt nimmt Luhmann immer wieder auf Kants Hauptstück über den ,,Schematismus der reinen Verstandesbegriffe`` (Kritik der reinen Vernunft, B 176-188) Bezug. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, an einer kurzen, aber exemplarischen Passage zu untersuchen, wie Luhmann philosophische Gedanken aufgreift und verarbeitet.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, in der Auseinandersetzung mit Luhmanns Text Antworten auf die folgenden Fragen zu finden:
Der Aufbau der Arbeit ergibt sich aus diesem Frageprogramm: In einem ersten Abschnitt versuche ich sehr knapp darzulegen, worum es im Hauptstück Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe überhaupt geht. Daran anschließend lege ich dar, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit ,,dem Subjekt`` und damit mit Kant innerhalb der Gesellschaft der Gesellschaft hat. Darauf folgt eine ausführliche, schrittweise Rekonstruktion der Luhmannschen Argumentation in Kapitel 5.II (,,Weder Subjekt noch Objekt``). Weitere, über den gesamten Text verstreute philosophische Aussagen Luhmanns müssen unberücksichtigt bleiben. Im letzten Abschnitt schließlich versuche ich zu einem abschließenden Urteil über Luhmanns Kant-Rezeption zu kommen.